Aufsatz: Der Manierismus - zwischen Renaissance und Barock

Der Manierismus ist eine verhältnismäßig kurze Zeit in der Geschichte der europäischen Kunst, markiert aber eine wichtige Periode: die Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit.

Verknüpft ist der Manierismus in Prag mit der Regierungszeit Kaiser Rudolph II., bekannt vielleicht wegen seiner schrullig anmutenden Sammlung von Kuriositäten aus der alten und der neuen Welt, dem sogenannten Rudolphinum, einst auf dem Prager Burgberg untergebracht.

Dass Tycho Brahe ein Zeitgenosse Rudolph II. und überhaupt das Zeitalter des Manierismus eines der abenteuerlichsten der europäischen Geschichte war, gerät oft in Vergessenheit, nähert man sich dem Thema nur aus kunsthistorischer Perspektive.

Die Suchabfrage bei Google mit dem englischen Begriff "manierism" bringt nur 4 Treffer, ganz anders die entsprechende Suche in deutscher Sprache - ganz offensichtlich ist der Manierismus also ein "kontinentales" Phänomen - vielleicht also verknüpft mit dem Sich-Sträuben der katholischen Kirche gegen die Neuerungen der Neuzeit, die im erzwungenen Abschwören Galileis und im 30-jährigen Krieg kulminierten.

Damit hatte wohl das England nach der Zeit Shakespeares wenig zu schaffen, längst hatte sich die Insel unter Heinrich VIII. - dem Mann mit den vielen Ehen - vom Reglement der katholischen Kirche gelöst - wohl eine frühe "splendid isolation", wie sie später vielleicht ebensowenig zufällig von den USA als ebenfalls aufkommender Weltmacht versucht wurde.

Das seefahrende England war wohl zu sehr mit dem Erwerb von Kolonien beschäftigt, als in Kontinentaleuropa der 30jährige Krieg tobte, um Dinge vielleicht, die in England schon längst "ausgemacht" waren, weil etwa die Nautik, eine frühe exakte Technik, mit vielen religiös Überlieferten nichts zu tun haben konnte. Wer wie Thomas Cook die Welt umsegelte, kümmerte das Dogma nicht, die Erde sei eine Scheibe. Das ging nicht. Kein Wunder also, dass die Industrialisierung, also die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben des Menschen, zuerst in England Fuß fasste, mit allen Folgen für das 20. Jahrhundert und die Jetztzeit.

So aus der Sicht des Ökonomischen und Naturwissenschaftlichen betrachtet könnte der Manierismus als ein Schwanken des Künstlerischen gedeutet werden, zwischen nämlich dem realistischen Stil der Renaissance - also nicht nur der Neufindung der Perspektive sondern überhaupt eines Strebens nach Perfektion in der wirklichkeitsgetreuen oder auch idealen Darstellung, und der alternativen Option einer "freien" Darstellung einer durch ein looking glass gefilterten, aber auch verzerrten Wirklichkeit, die gegenüber der Wirklichkeit weder Abbild noch Vorbild sein, sondern eine wenn auch skurile, doch eigene Welt umreißen wollte.

So wie der Mönch des frühen Mittelalters "frei" war, von einer perfekten Darstellung abzusehen, wenn nur das Werk dem Lobe Gottes diente, so fühlte sich der manieristische Künstler "frei", von der genauen Darstellung der Wirklichkeit abzuweichen, wenn etwa die Technik der perspektivischen, nicht planen, Darstellung dabei beachtet bwz. überhöht werden konnte.

Romanik und Manierimus ließen sich also - so die These - in einer Disziplinlosigkeit zum einen der Form, zum anderen dem Inhalt gegenüber gleichsetzen.
Kriterium einer Exzeptionaliät von künstlerischer Leistung müßte dann sein, ob der anonyme Künstler des Mittelalters trotz "Bescheidenheitsgebot" eine formal höchsten Qualitätsansprüchen gerecht werden wollende Darstellung ablieferte ("erlaubt" vielleicht nur im Rahmen des "unsinnlichen" Schriftzeichenkopierens - daher also die so mysteriös perfekten und unglaublich aufwändigen Anfangsbuchstaben der Kapitellmalerei (?) sowie die bekannt individuell und naturgetreue Darstellung von König und Königin im Naumburger Dom) bzw. - in bezug auf den Manierismus - ob der virtuose Künstler mit der formalen Verzerrung und damit verursachten "Sensation" auch inhaltliche Ziele verfolgte (etwa aufklärerisch-pädagogisch-wissenschaftliche).

Die Mona Lisa Leonardos zelebriert den lächelnden Ausgang des mittelalterlichen, kindlichen Menschen aus seiner "selbstverschuldeten Unmündigkeit" bzw. die Tatsache, dass es keines künstlerischen Kraftaktes - wohl eher eines Geniestreiches - besser aber: eines Entschlusses bedurfte, eine so realistische Abbildung der Frau, wie sie Leonardo errreichte, überhaupt erzielen, erreichen zu wollen, während die Leistungshürde und das "Planziel" in den Zellen der Klöster im Akt des Produzieren, des Kopierens, des anonymen Vervielfältigens lag - eben kein Labor als Experimentierzelle sondern "et labora" als Fortsetzung der Kontemplativität mit anderen Mitteln.

Nicht zufällig fällt die so wichtige Erfindung der Buchdruckerkunst in die Zeit von Renaissance und Manierismus. Ganz ähnlich wie wohl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Erfindung und praktische Anwendung der Fotografie zu einem Infragestellen der traditionellen, hier nun gerade realistischen Malkunst führte und zu den - nun wiederum nicht höfisch-religiös sondern individuell-subjektiv verzerrten und überhöhten Darstellungweisen etwa des Kubismus und der Neuen Abstraktion führte, so mußte um 1600 die Einführung der Druckerpresse und die massenhafte Reproduktion von Kupferstichen den Beifall für die Kopie als Werk auf den Beifall für die Art und Weise, die Kunstfertigkeit der Darstellung verlagern: daß allein bekannte, über mündliche Überlieferung allgemein bekannte Themen etwa der Bibel in bildliche Form gefaßt wurden, dass es also überhaupt Bilder gab und geben konnte, weil fleißige Mönche auf Pergament kopierten und gotische Baumeister die von der Heiligen Schrift, durch durch mündliche Verkündung verbreiteten Geschichten überhaupt in eine mit den Augen erfahrbare Form brachten, konnte nun - wohl zunächst aus der Selbsteinschätzung der Künstler - nicht mehr genügen. Der Künstler musste sich zu einem über die Reproduktion bzw. den Akt des Herstellens hinausgehenden Leistung verpflichtet fühlen. Dies war so die Vermutung - die Angst der manieristischen Maler: kaum erst der Verblüffung entronnen, dass es nur einer geringen Anstrengung bedurfte (wiederum aus der Sicht desjenigen, der das Talent besaß bzw. die Anstrengung tatsächlich auf sich nahm - wie etwa Michelangelo unter der Decke der Sixtinischen Kapelle), von einer mittelalterlichen, kindlich anmutenden Bilderbuchdarstellung zu einer realistisch-perfekten, insbesondere perspektivischen Maltechnik überzugehen (zelebriert in Leonardos Mona Lisa), mußte sich der Künstler um 1600 mit einer weiteren Revolution auseinandersetzen - dass der Akt der Fertigung eines Abbildes als solchem von einer Maschine übernommen werden konnte. Diese Befürchtung erlosch mit der Einbettung der Kunst und des Künstlichen an der Kunst in den höfischen Stil des Barocks - Kunst war nicht mehr Kunst aufgrund der Künstlichkeit, des Artistischen der Darstellung sondern die Artistik lag nun wieder in den Inhalten: Herrscherportraits und goldstrahlende Heiligenscheine, anders nun als im Mittelalter in perspektivischer Überhöhung - nicht zufällig reißt die barocke Kuppel die Perspektive nicht in die Weite von Flusslandschaften, sondern zum Himmel der Religion hinauf, ins Geistige.

Das Unnatürliche, Gestelzte des Manierismus kann mit der Verzerrung und Verfremdung im Impressionismus und den folgenden Epochen des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden. Der Manierismus ist also wie die Jahre 1880 bis 1930 deshalb besonders interessant, weil eine realistische Darstellung alltäglicher, auch "banaler", aus dem Alltag bzw. der Natur herausgegriffer Inhalte mit mit einer sehr subjektiven Darstellungsweise verknüpft wurde, die jedoch noch nicht den Grad eines hermetischen Codes erreicht: dass der Schwanenhals eine seltsame "Entartung" darstellt, wird bewußt, wird jedem "uninformierten Betrachter" bewußt, doch ist sofort auch zu erkennen, worum es sich beim Dargestellten handelt. Analog sind die kubistischen usw. Stile, bzw. bei Picasso nurmehr als "Perioden" bezeichneten Darstellungsweisen um 1900 von dem Willen geprägt, über den Akt der Reproduktion des Natürlichen - das als solches erkennbar ist - eine weitere künstlerische Leistung zu erbringen - eine wohl sehr schwierige Gratwanderung. Kein Wunder, dass beide Perioden in der Kunstgeschichte kurz blieben, und die Klassische Moderne zum einen in eine subjektive Action-Malerei mündete, zum anderen in einen genau definierten Code von Bedeutungen, die nur den mit Kunst Befaßten bzw. dem Vor-Informierten verständlich ist.

Der Manierismus mündet in den Barock - eine höfische wie auch bürgerliche Malerei, in der das individuelle Porträt nicht zufällig große Bedeutung bekam - das Modell und seine unmittelbare Umgebung waren Gegenstand und auch Publikum, und auch die barocke Hofmalerei huldigte der Person, doch ganz unverblümt in ihrer Rolle als Herrscher.

Die Offenheit der Renaissance - die Grenzenlosigkeit der Flusslandschaft in Leoardos Mona Lisa (nicht zufällig vielleicht "figura serpentina") - wich einer genauen Gezirkeltheit der Inhalte und der betrachtenden Kreise. Das Porträt hielt fest - punktum. So gesehen ist die Rückkehr zur realistischeren Darstellung ohne Brechungseffekte eine affirmative, "konservierende" Darstellung - jede Verunsicherung des Betrachters, durch den transparenten Hinweis darauf, dass es sich um eine von Künstlerhand gefilterte Wirklichkeit handelt, unterbleibt. Konsequenterweise kann dann Qualitätskritierum nicht mehr das Aufwerfen von Fragen und dem Rezipienten unbekannter Gefühle sein, sondern die Güte der Vereinnahmung des Zuschauers - ob es sich also um ein "gutes" oder ein "schlechtes" Gemälde handelt. Je besser der insoweit also als "Konsument" angesprochene Rezipient eskapistisch in den Bann der beispielsweise erzählerischen Spannung gerät, desto gelungener das Werk.

Auch die Hofmalerei feierte die eigene, alte Welt, nur viel universaler - im kürzlich restaurierten Treppenaufgang Tiepolos der Residenz in Würzburg spielen die vier Erdteile nur die Rollen der Gewölbeecken, verschnörkelt, verstuckt und verziert.

Die barocke Kunst ist der der Renaissance in ihrer Realitätsnähe, in ihrer Plausibilität beim Betrachter verwandt - so liegt aber ein erheblicher Unterschied im Inhaltlichen, im Gegenstand der Darstellung, der aus heutiger Sicht kaum mehr deutlich werden kann: weil es sich sowohl bei Antike als auch Barock um aus unserer Sicht vergangene Zeiten handelt - nicht aber aus der Sicht der jeweils in dieser Zeit Lebenden. Genauer: für den in der Zeit der Renaissance Lebenden war die Zeit der Antike keine gegenwärtige - der Rekurs auf eine fremde Darstellung und Zeit mußte zu einem Bewußtwerden im Sehen führen, und gerade diesen Verfremdungseffekt trieb der Manierismus in aufrührernder Art und Weise bis zur Grenze der Verblüffung. Anders der zeitgenössische Betrachter eines Barockkunstwerkes: ihm wurde ein "Traum" gemalt in weißen Wolken, in ungebrochenem, strahlendem Glanze. Der Manieriesmus ist also im Sinne des Begriffs der "bildenden" Kunst die bessere, da irritierender und anregender - von den vermittelten Inhalten abgesehen, die aber bei nicht zu eigenständiger Reflektion anregender Darstellung per se unter Ideologieverdacht stehen.
Die Technik des Barock war gegenüber derjenigen Renaissance nichts neues - nur waren die Inhalte eskapistisch oder aber affirmativ - grob gesagt: nicht als bildende Kunst im pädagogischen Sinne gemeint. Somit ist der Manierismus als Übergangsstadium anzusehen: vielleicht kamen die humanen Ideale, die Inhalte "nicht rüber" oder aber mußten aufgrund des Wiedererstarkens der alten Herrschaft, des Macchiavilismus auch der katholischen Kirche aufgegeben werden. Zumindest im Formalen wollte also der manieristische Künstler noch am "Aufrührerischen" , Anleitenden, Anregenden, Aufregenden der Kunst der Renaissance festhalten - so wie Michelangelo seine eigene Haut als vom Leder gezogen darstellte. Was diese Künstler wohl nicht für möglich hielten, war, dass die Realität selbst zur effektvollen, dramatischen Inszenierung werden sollte - etwa die real existierende Welt des Schlosses von Versailles - was erst 1789 zur Debatte kam.

Die Brüche, die der Manierismus durch seine "Verfremdungseffekte" in eine sonst hermetisch-abgeschlossene Bedeutungswelt hineintrug, machen ihn überzeitlich interessant. Es handelt sich - so die Behauptung - gerade nicht um eine höfische oder privatistische Kunst sondern um ein im besten Sinne demokratisch gedachtes Gefallenwollen der Künstler in einer Zeit des Infragestellens (ja eines protestantischen Bildersturms). Dazu muß nur unterstellt werden, dass ein Bruch, eine Verzerrung in der Form auch Gründe haben kann, die über die Virtuosiät der Pinselbeherrschung hinausgehen. Sie tragen Gurken im Gesicht, Herr Archimboldo, he, was soll das?